Constantin Floros
Entwurf einer integralen Musikwissenschaft
                                                     (FRAGMENT)

Der Fortschritt der geschichtlichen Wissen-
schaften wird sich überall da vollziehen, wo
Spezialisierung und Ganzheitsbetrachtung sich
kombinieren
und durchdringen. Beide fordern
sich gegenseitig und stehen in einem komple-
mentären Verhältnis.
Spezialismus ohne Universal-
ismus ist blind.
Universalismus ohne Spezia-
lismus ist eine Seifenblase."
 Ernst Robert Curtius
1


Das 20. Jahrhundert wird in die Geschichte der Menschheit (wahrscheinlich) als ein Säkulum eingehen, in dem die Wissenschaften wahre Triumphe feierten. Dies gilt sowohl für die Natur- als auch für die Geisteswissenschaften, die eigentlich „Wissenschaften vom Menschen" sind2.
Auch von der Musikwissenschaft kann man sagen, daß sie in den vergangenen hundert Jahren einen enormen Aufschwung nahm. In zahlreiche Teildisziplinen fest etabliert, konnte sie auf vielen Gebieten große Fortschritte erzielen. Zu den traditionellen Disziplinen Historische und Systematische Musikwissenschaft, Ethnomusikologie, Akustik und Musiktheorie kamen noch die Musikanthropologie, die Musikpsychologie, die Musiksoziologie und neuerdings die Musiksemiotik und die Musiktherapie hinzu.
Neue Methoden wurden ersonnen, der Methodenpluralismus hat sich vielerorts durchgesetzt, vielfach konnten geradezu sensationelle Forschungsergebnisse gemeldet werden.
Gleichwohl haben viele gerade heute - an der Schwelle zum 21. Jahrhundert - das Gefühl einer Rat- und Orientierungslosigkeit.
Es will scheinen, als hätten wir das Ziel aus den Augen verloren, als überblickten wir das Ganze nicht mehr. Manch einer spricht sogar von einer Zersplitterung und von einer schweren Krise des Faches. Recht treffend wird in der neuen MGG3 konstatiert: „Führt die Expansion einerseits zu einer immer genaueren Kenntnis von immer mehr Musik, so bedingt sie andererseits die wachsende Unüberschaubarkeit der Disziplin.
Die Idee eines Forschungsstandes kann kaum mehr aufrechterhalten werden.
Die Kehrseite der zunehmenden Differenzierung sind der Verlust von Praxisnähe und Breitenwirkung sowie die Kommunikationsprobleme innerhalb des Faches selbst:
Den immer spezialisierteren Fragen begegnet nicht nur die musikinteressierte Öffentlichkeit mit Unverständnis oder Desinteresse, mitunter verstehen auch die Musikwissenschaftler einander nicht mehr.

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1   Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 5. Aufl. Bern 1965, S. 10.
2   Erich Rothacker: Logik und Systematik der Geisteswissenschaften, München und Berlin 1927, Nachdruck Darmstadt 1970, S. 12.
3   Andreas Jaschinski: Artikel Musikwissenschaft, in: MGG2 VI, 1808.